Linguistik online 5, 1/00
 

Vorwort der Herausgeberinnen

Anita Fetzer  & Karin Pittner 


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Das Forschungsgebiet der Gesprächsanalyse ist für die Sprachwissenschaft vor allem deshalb bedeutsam, weil es die Gesprächspraxis von einzelnen SprecherInnen in Gesprächen aller Arten, wie u.a. Interviews, Unterrichtsgespräche, Therapiegespräche, Polizeiverhöre, Diskussionen oder auch Medienkommunikation untersucht. In der deutschsprachigen Sprachwissenschaft finden sich für dieses Forschungsparadigma die Bezeichnungen Konversationsanalyse, Diskursanalyse, Linguistik des Dialogs und Gesprächsanalyse. Als Untersuchungsgegenstand gilt die Kategorie Gespräch, die als grundlegend für jede Form menschlicher Gesellschaft angesehen werden muss. Während die Gesprächsanalyse im Deutschen der Pragmatik, Soziopragmatik oder auch Sprachpragmatik zugerechnet wird, zählt sie im anglo-amerikanischen Kontext aufgrund ihrer starken sozialen Orientierung zu den Forschungsparadigmen der Soziologie und Anthropologie.

Die Kategorie des Gesprächs wird im Rahmen der Gesprächsforschung anhand der das Gespräch konstituierenden Phänomene des Redewechsels (turn-taking), des Adjazenzpaares und der daraus resultierenden Organisation der Präferenzen (preference organisation), der Themeninitiierung und der Themenakzeptierung auf der Ebene der Gesprächsphase, d.h. Gesprächseröffnungsphase, Mittelteil und Geprächsbeendigungsphase, und auf der Ebene des turns und des turn-takings analysiert, wo vor allem Reparaturen untersucht werden. Während in der traditionellen Gesprächsforschung primär das Hervorgebrachte als Untersuchungsgegenstand gilt, findet in neueren Analysen ein Perspektivenwechsel in Richtung auf das Mitgebrachte statt. Hierbei konzentriert sich erstere auf die Fragestellung, wie die Basiskategorien des turn und das daraus resultierende turn taking in Gesprächssequenzen interaktional hervorgebracht werden. Im Gegensatz dazu untersucht letztere zum einen das Mitgebrachte im Rahmen von Diskurspräsuppositionen, sozialer Kognition und soziokultureller Kompetenz. Zum anderen wird aber auch die Wechselwirkung zwischen Hervorgebrachtem und Mitgebrachtem untersucht. Dies wird zum einen im Rahmen von diskursspezifischen Präsuppositionen, zum anderen im Rahmen der sozialen Kognition, untersucht, wobei die Frage, wie das Mitgebrachte hervorgebracht wird, im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Diese neueren Tendenzen erfordern eine Abkehr von der traditionellen Einordnung von Sprache als reinem semiotischem System und somit einem reinen Oberflächenphänomen, d.h dem Hervorgebrachten in aktuellen Situationen, hin zu einer kognitiven Sprachbetrachtung, bei der das Mitgebrachte, d.h. die diskursiven Präsuppositionen, SprecherInnen- oder HörerInnenintentionen und die diesbezüglichen Inferierungsprozesse, eine äußerst wichtige Rolle spielt.

Die Beiträge dieses Sonderheftes lassen sich in die Gebiete der Interkulturellen Kommunikation, der Genderforschung, der Angewandten Gesprächsforschung und der Beziehung von Pragmatik und Grammatik zuordnen.

Christiane Meierkord (Erfurt) untersucht in ihrem Beitrag "Interpreting successful lingua-franca interaction. An analysis of non-native / non-native small talk conversation in English" das Phänomen der lingua franca als LernerInnensprache, wobei sie zum einen die Problematik des Redewechsels im Rahmen des Konzeptes ‘wadan’ diskutiert und lingua franca-spezifische Redewechselmechanismen anhand einer Mikroanalyse exemplifiziert.

Katarina Mikova (Banská Bystrica / Slowakei) untersucht in ihrem Beitrag "Manager im Deutschunterricht und Studenten in Unternehmen" Sprache und Sprachverhalten in Organisationen, wobei sie sowohl institutionsspezifische kommunikative Strategien wie Aufforderung im interkulturellen Kontext (deutsch / slowakisch) als auch die Phänomene Wissen, Erfahrung und Urteilsstrukturen explizit in ihre Gesprächsanalyse miteinbezieht.

Ingrid Piller (Hamburg) analysiert in ihrem Beitrag "Language choice in bilingual, cross-cultural interpersonal communication" bilinguale Kommunikation im Rahmen der Konversationsanalyse, wobei ihre Schwerpunkte auf der Konstruktion von (1) interkultureller und (2) interpersonaler Kommunikation liegen. Sie zeigt auf, dass bilinguale SprecherInnen die Wahl haben, sich als bikulturelle oder auch als gemischtkulturelle Individuen zu präsentieren.

Anita Fetzer (Stuttgart) diskutiert in ihrem Beitrag "'Vordergründig war ich für die gar nicht frau': Zur sprachlichen Repräsentation von Geschlecht" die Interdependenz der oberflächensprachlichen Realisierung der sozialen Identitäten von Geschlecht und Beruf im Deutschen. Ihre Untersuchung ist im Rahmen eines soziopragmatischen Kommunikationsmodells angesiedelt, innerhalb dessen "Geschlecht" und "Beruf" als zu ratifizierende Geltungsansprüche eingestuft werden.

Peter Kunsmann (Berlin) untersucht in seinem Beitrag "Gender, status and power in discourse behavior of men and women" die Interdependenz der soziolinguistischen Variablen Geschlecht und Status im Rahmen einer Analyse von diesbezüglichen Untersuchungen. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass hier nicht die Frage des entweder / oder im Mittelpunkt der Untersuchung stehen sollte, sondern die Frage des sowohl / als auch.

Anita Fetzer (Stuttgart) präsentiert in ihrem Beitrag "'Was muss ich machen, wenn ich will, dass der das da macht’: Eine interpersonal orientierte Gesprächsanalyse von ExpertInnen/Laien Kommunikation" eine Makro- und Mikroanalyse von ExpertInnen/Laienkommunikation in der Institution Hochschule. Hierbei zeigt sie zum einen, welchen Rahmenbedingungen diese Art von Kommunikation unterliegt. Zum anderen expliziert sie, dass das aktuelle Sprachverhalten der sozialen Akteure nicht nur vom Thema, sondern auch von den soziolinguistischen Variablen Hierarchie und soziale Nähe abhängt.

Dorothee Meer (Bochum) zeigt in ihrem Beitrag "Möglichkeiten angewandter Gesprächsforschung. Mündliche Prüfungen an der Hochschule" konkrete Anwendungs- und Verbesserungsbereiche auf. Sie analysiert sowohl die institutionellen Rahmenbedingungen als auch das konkrete Sprachverhalten in mündlichen Prüfungen, wobei sie zum einen sprachliche Konfrontation und sogenannte perlokutive Effekte untersucht. Zum anderen illustriert sie auch die Relevanz von Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnissen und zeigt konkrete Handlungsalternativen auf.

Ulrich A. Schmidt (Bochum) diskutiert in seinem Beitrag "Bewerbung und Vorstellungsgespräch aus dialoglinguistischer Sicht: Einige Vorbemerkungen zur Aufarbeitung eines von der Linguistik vernachlässigten Arbeitsgebietes" das Phänomen der Bewerbung im Rahmen der Diskursanalyse. Bewerbung wird als Sprachspiel eingestuft und sowohl aufgrund von intralingualen als auch außersprachlichen Faktoren analysiert und unter dialogischen Gesichtspunkten systematisiert. Im Gegensatz zu der eher traditionellen Einstufung von Bewerbung als Prüfungsgespräch plädiert Schmidt für die Klassifikation als Flirtgespräch und expliziert diesbezügliche Spielregeln.

Karin Pittner (Bochum) präsentiert in ihrem Beitrag "Sprechaktbedingungen und bedingte Sprechakte: Pragmatische Konditionalsätze im Deutschen" eine Untersuchung der Schnittstelle Grammatik / Pragmatik und plädiert für eine Erweiterung des Untersuchungsrahmens in Richtung auf Gespräch. In einer Mikroanalyse zeigt sie die verschiedenen Funktionen dieser pragmatischen Konditionalsätze als relevanzklärende, illokutionsmodifizierende, einstellungs- und formulierungskommentierende, aufmerksamkeitssteuernde und diskursstrukturierende Mittel auf. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Stellungsregeln für diese Konditionalsätze.