Linguistik online 3, 2/99



Orthographie und Phonetik im Blickpunkt deutscher einsprachiger Wörterbücher
Zur Geschichte und Gegenwart des lexikalischen Formbewusstseins

(Tallinn)



 
 

1 Einführung und Problemaufriss

Seit Jahrhunderten existieren Versuche, den geläufigen deutschen Wortschatz (oder zumindest Teile davon) in lexikographischen oder verwandten Textformen darzustellen. Der Beginn dieser Anstrengungen reicht bekanntlich bis in die Zeit des Althochdeutschen zurück. Er führte damals vornehmlich zu zweisprachigen Glossen oder (v.a. deutsch-lateinischen) Wörterbüchern (Grubmüller 1990). Etwa seit dem 17. Jahrhundert gibt es Bemühungen, den deutschen Wortschatz in einem einsprachigen Wörterbuch(-projekt) darzustellen. Die Entwicklung dieser einsprachigen Lexikographie kann im Kern als kumulative Fortschrittsgeschichte beschrieben werden. Sie besitzt sowohl eine theoretische als auch eine empirische Seite: Die Lemmabestände wurden immer umfangreicher, die Informationen zu den einzelnen Einträgen immer ertragreicher, die lexikographischen Wahrnehmungen immer ausgefeilter, die linguistischen Beschreibungsdimensionen immer vielfältiger. Was letzteren Punkt angeht, so sei hier nur darauf hingewiesen, dass in den heute gängigen Wörterbüchern Angaben zur Phonetik/Phonologie, Orthographie, Morphologie, Syntax, Semantik, Etymologie und Stilfärbung des jeweiligen Lemmas gefunden werden können; daneben sind Informationen nicht unüblich, die sich auf die Zuordnung zu bestimmten Dialekten oder anderen Varietäten (z.B. Fachsprachen, Gruppensprachen u.ä.) beziehen. Diese Informationsbreite zeugt nicht zuletzt von einer erheblich gestiegenen Schärfung der lexikographischen Aufmerksamkeit (vgl. im Bezug auf die Problematik der Markierungen Ludwig 1991, allgemein resümierend und profilierend Wiegand 1998). Wenn es auch einige gut begründete Einwürfe gibt, nach denen der gegenwärtige Stand der deutschen Lexikographie - etwa im Blick auf die Situation in England und Frankreich sowie in Anbetracht der heutigen technischen Möglichkeiten - viel besser sein könnte, als er ist (cf. z.B. zuletzt Schulz 1999; BBAdW 1998; Schmidt 1997), so lässt sich doch im größeren historischen Rahmen zunächst einmal festhalten, dass wir heute in einsprachigen Wörterbüchern in den verschiedensten Hinsichten besser über die deutsche Sprache informiert werden als, sagen wir, vor zweihundert Jahren.

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte möchte ich mich in diesem Aufsatz mit einem Detail der Lexikographie beschäftigen. Einfach gesagt, soll es darum gehen, welche Rolle der Bezug auf die phonetische und orthographische Dimension des Wortschatzes in den verschiedenen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen spielte bzw. spielt. Die Auswahl von Orthographie und Phonetik ist dabei nicht zufällig. Denn diese beiden Dimensionen sind besonders eng mit einem zentralen Aufbauelement des Wörterbuchs verbunden: den Stichwörtern ("Lemmata"). Die phonetische und orthographische Form der Wörter steht ausdrucksseitig mehr oder weniger unmittelbar für ihre lexikalische Identität. Jeder, der ein Wörterbuch erarbeitet, macht deshalb - explizit oder implizit - Aussagen darüber, wie die ausdrucksseitige Identität der Wörter im Rahmen seiner lexikographischen Arbeit beschaffen und aufzufassen ist. In diesem Sinne spreche ich allgemeiner auch von "lexikalischem Formbewusstsein". Darunter verstehe ich diejenigen ausdrücklichen oder unausdrücklichen Annahmen und Bedingungen, gemäß denen die ausdrucksseitige Identität und/oder Variabilität ("Form") der Wörter (hier: der Lemmata) in einem Text (hier: im einsprachigen Wörterbuch des Deutschen) thematisiert und eventuell festgestellt wird.

Bevor ich zu den historischen Befunden komme, ist vorweg noch eine Eigenart meines Themas aufzugreifen. Sie betrifft die enge Verquickung von Phonetik und Orthographie. Generell kann nämlich festgestellt werden, dass Phonetik und Orthographie früher selten exakt auseinandergehalten wurden. Dies gilt längst nicht nur, aber eben auch in lexikographischen Zusammenhängen. Tendenziell steht fest: Je älter ein Text ist, desto schwieriger ist zu entscheiden, ob bestimmte Aussagen über die Aussprache (1), die orthographische Form (2) eines Wortes oder über beides (3) getroffen wurden. In der Regel wurde vorausgesetzt, dass sie für beide Verkörperungsformen von Wörtern in gleicher Art und Weise galten, also Fall (3) anzusetzen ist. Anders gesagt: Was in orthographischen Kategorien formuliert wurde, sollte auch auf die Aussprache eines Wortes eindeutig beziehbar sein. Sprach man beispielsweise von "Buchstaben", so konnte man dasselbe auch auf die "Laute" oder "Töne" eines Worts beziehen. Dahinter steckt natürlich die irrige, aber auch nicht völlig unbegründete Annahme, dass die (Alphabet-) Schrift nur etwas visuell verkörpert, was in derselben Art und Weise auch auditiv wahrgenommen werden kann. Faktisch dominierte freilich die Orthographie das lexikalische Formbewusstsein: Was überhaupt als ein Wort zu begreifen war und wie dessen Eigenschaften zu bestimmen waren, wurde primär an seiner schriftlichen Form festgemacht, nicht an genaueren phonetischen Betrachtungen (vgl. dazu auch einige ähnlich gelagerte Befunde in Raible 1991). Trotz bzw. gerade wegen dieser teilweise sehr verworrenen Lage, möchte ich im folgenden stets versuchen, orthographische und phonetische Ebene möglichst genau zu trennen.
 

2 Frühneuhochdeutsche Wörterbücher

Im 16. und 17. Jahrhundert beginnt allmählich im engeren Sinne die Geschichte der deutschsprachigen Lexikographie. Auch wenn die meisten Sammlungen noch nicht in jeder Hinsicht mit heutigen einsprachigen Wörterbüchern gleichzusetzen sind, so finden sich hier doch wenigstens deren Vorläufer.

Das lexikalische Formbewusstsein ist in dieser Zeit in den Wörterbüchern noch kaum entwickelt; dies gilt besonders für die Zeit vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Man sieht das etwa daran, dass sich im Fragment eines deutschen Wörterbuchs in den einleitenden Bemerkungen keine (methodologischen) Aussagen finden, die auf die Orthographie oder Phonetik des gesammelten Wortschatzes zugeschnitten wären (cf. Henisch 1616). Nur aus einigen Lemmatisierungen lässt sich ableiten, dass die damalige Variabilität der Wörter dem Verfasser zumindest an einigen Punkten bewusst gewesen ist. So setzten etwa die Einträge zu den eine Fisch- bzw. Kräutergatttung bezeichnenden Wörtern "Barsch" / "Basilikum" folgendermaßen ein: "Bars / parß / parsch / bersich / persing (…)" / "Basilien kraut / basiliken / basilg / basilgen" ein. Diese Varianten sind vermutlich sowohl orthographisch als auch phonetisch zu nehmen. Über den (möglichen) Status dieser Variation bekam man jedoch vom Verfasser der Sammlung keinerlei Information. Die veränderliche Wortgestalt wurde lediglich ab und zu verzeichnet, reflektiert wurde darüber weiter nicht. Diese Vernachlässigung der sprachlichen Ausdrucksseite hängt vermutlich auch damit zusammen, dass das Wörterbuch nach heutigen Begriffen sehr viel mehr inhalts- denn ausdrucksorientierter angelegt war. Im Prinzip lässt sich dies schon am vollständigen Titel der Sammlung ablesen. Es handelte sich hier ja um ein Werk, in dem zugleich die "Teütsche Sprach und Weißheit" [Hervorh. W. P. Klein] verzeichnet sein sollte. Und der Akzent lag letztlich doch sehr viel mehr auf der "Weißheit", d.h. auf dem Alltags- und Fachwissen, insofern dies in deutschen Wörtern präsent gemacht werden konnte, als auf den Vermittlungsmedien dieser "Weißheit", d.h. den Wörtern. In dieser Hinsicht lag die Arbeit freilich voll im linguistischen Trend der Zeit (cf. Klein 1992: 261), die ohnehin auf dem fachlexikographischem Feld wesentlich fortgeschrittener war als auf sprachlexikographischem (cf. Klein 1995).

Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch aus der Betrachtung einer bereits zuvor erschienenen Sammlung, in der der deutsche Wortschatz anhand von Synoymierelationen registriert werden sollte (zum Kontext und nachgedruckten Werk cf. Haß 1986). Auch wenn das "Formular" von Leonhard Schwartzenbach laut Titel erläutern sollte, wie man dasselbe "auff mancherley art vnd weise / zierlich reden / schreiben / vnd ausprechen soll", so bezeichneten die Ausdrücke "reden", "schreiben" und "aussprechen" hier doch keine Tätigkeiten, bei denen die phonetische oder orthographische Gestalt der Wörter genauer in den Blick hätte kommen können. Denn alles baute darauf auf, dass eine gegebene Bedeutung (nach Henisch: "Weißheit") identisch blieb und in der Sammlung verzeichnet war, wie man diesen Gehalt mit anderen Wörtern sagen könnte. Die Ausdrucksseite der Wörter an und für sich war auch hier kein Thema, stattdessen dominierte ihre inhaltsseitige Identität ganz offensichtlichen den Sprachbegriff, der dem Werk zugrunde lag.

Die Situation, die oben beispielhaft an den Werken von Henisch und Schwartzenbach erläutert wurde, veränderte sich im weiteren Verlaufe des 17. Jahrhunderts nicht grundlegend. Die Aussprache der Lexeme des deutschen Wortschatzes wurde auch in den Sammlungen von Schottelius und Stieler weder systematisch verzeichnet noch genauer reflektiert. Allerdings wurden in diesen beiden Werken diejenigen Problemfelder zumindest kurz angesprochen, die auch später immer wieder zur lexikographischen Thematisierung von Orthographie und Phonetik führen werden. Da ist zum einen die Problematik der deutschen Dialektvielfalt, die vor der Durchsetzung einer Einheitsorthographie natürlich noch zugleich als phonetisches und orthographisches begriffen werden musste. In diesem phonographischem Sinne lieferte Schottelius eine einführende Bemerkung, die zwar in orthographischen Begriffen formuliert war, aber wohl gleichzeitig als Aussage über die Aussprache genommen werden darf:
 

"Oft wird auch wegen Verenderung der teutschen Mundarten ein Wort nicht auf einerley [Art und Weise (Hinzufügung W.P.K.)] geschrieben / und möchte es der eine an diesem / der andere an jenem Orte suchen / als Glokke / Klokke; Tag / Dag; gäl /gehl / etc. sind deshalber an beyden Orten gesetzt / und eins aufs ander mit v. vid. vide verwiesen." (Schottelius 1666:1275)
Die Einführung von Verweisstichwörtern (vgl. im Wörterverzechnis z.B. "Trey tres. v. drey", "Rot vid. roht", "Weir v. weiher") hat hier also nicht nur eine technisch-praktische Dimension. In diesem lexikographischen Detail verkörpert sich nämlich der Versuch, die ausdrucksseitige Variabilität der damaligen deutschen Sprache etwas besser in den lexikographischen Griff zu bekommen als zuvor.

Bei Stieler wird wenig später das andere lexikographische Problemfeld kurz angerissen, an dem sich später immer wieder Bemerkungen und methodologische Erörterungen zur Phonetik und Orthographie des deutschen Wortschatzes entzündeten: die Frage der Fremdwörter bzw. derjenigen Wörter, die in irgendeiner Art und Weise von einer als "normal" bzw. "regelgerecht" begriffenen (phonetischen und/oder orthographischen) Norm abwichen. Ähnlich phonographisch orientiert wie Schottelius nimmt Stieler dazu in der "Vorrede" seines "Teutschen Sprachschatzes" wie folgt Stellung:
 

"Was die Teutsche Schreibart betrifft / so ist dieselbe mehrenteils der bishero üblichen gemäß und zuförderst auf den Klang und Ausrede iedes teutschen Wortes gerichtet / auch die unnötige Buchstaben / so nicht gehöret werden / insonderheit aber das verdrießliche h bey denen langlautenden Stimmern a / o / u / und denen Doppelstimmern mehrenteils ausgelaßen / die fremde Worte aber / wie sie lauten / sonder Absehen auf ihre Lateinische oder Griegische Ankunft / geschrieben worden / und zwar nach dem Exempel aller andern Sprachen / welche ein fremdes Wort / wie es bey ihnen geredet wird / ohne Betrachtung des ausländischen Ursprungs / iederzeit geschrieben haben."
(Stieler 1691:Vorrede fol. ijv).
 
 
3 Wörterbücher im 18. und 19. Jahrhundert

Im 18. und 19. Jahrhundert gibt es nun einige Zeichen dafür, dass und wie sich das lexikalische Formbewusstsein in Wörterbüchern weiter profilierte. Diese gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der äußeren Form des Wortschatzes lässt sich sowohl auf orthographischem als auch auf phonetischem Feld feststellen:

Im wichtigsten deutschen Wörterbuch des 18. Jahrhunderts (Adelung 1774ff) findet man verschiedene Angriffspunkte für phonetische und orthographische Betrachtungen (das folgende entnehme ich v.a. Dill 1992:). Die Aussprache der Lemmata wird zunächst bei noch nicht vollständig assimilierten Fremdwörtern sowie bei Homographen und manchen Dialektformen thematisiert. Als graphisches Mittel zur Darstellung der Aussprache griff Adelung dabei auf die deutschen Buchstaben zurück, deren phonetischer Gehalt hier sozusagen als notdürftiges und bereits bekanntes, daher volkstümliches Transkriptionssystem genutzt wurde - ein Verfahren, das Adelung allerdings sicher nicht erfunden hatte (cf. Ternes 1989:510) (z.B. "Der Balcon, (sprich Balkong)", "Die Jalousie, (sprich Schalusie, und im Plural viersylbig)", "1. Das Küchlein, (mit einem langen ü) (…) 2. Das Küchlein, (mit einem kurzen ü)…"). Freilich erläuterte er in seinem Wörterverzeichnis bei Beginn der jeweiligen Alphabetbuchstaben öfters den phonetischen Gehalt und auch die dialektale Aussprache-Variabilität der einzelnen Buchstaben, d.h. also die Problematik der Laut-Buchstaben-Zuordnungen. Die entsprechenden Abschnitte stellten also gewissermaßen kleine Exkurse zur Phonetik der deutschen Dialekte dar, die sich jeweils um eine einzelne Laut-Buchstaben-Zuordnung drehten (cf. Dill 1992:223f).

Im Vordergrund der phonetischen Aufmerksamkeit stand jedoch nicht die Phonetik im engeren Sinne, sondern die Akzentnotierung, die zudem in der zweiten Auflage des Adelungschen Wörterbuchs sehr viel systematischer und weniger sporadisch erörtert wurde als in der ersten. Als Zeichen für die Akzentnotierung griff Adelung auf Entwicklungen zur Tonmarkierung aus der englischen Lexikographie (Sheldon 1946) zurück: ein ` über einem Buchstaben bezeichnete einen "gedehnten" Tonakzent (= langer Vokal), ein ´ einen geschärften Tonakzent (= kurzer Vokal). Mit diesem Mittel war es nun also möglich, betonte Längen von betonten Kürzen zu unterscheiden. Angewandt wurde das Verfahren wiederum vor allem bei Fremdwörtern sowie bei deutschen Wörtern, deren Lautung als Ausnahme von einer Regel erscheinen konnte.

Auf diesem Fundament, das Adelung in seinem einflussreichen lexikographischen Werk gelegt hatte, sollte das lexikalische Formbewusstsein in phonetischer Hinsicht für die folgende Zeit basieren: Als (notdürftiges) Transkriptionsystem griff man auf die deutsche Orthographie zurück, deren Beschreibungskraft durch Akzente ein wenig ausgebaut wurde; die lexikographische Aufmerksamkeit richtete sich dabei vor allem auf die Aussprache von Fremdwörtern sowie auf mutmaßlich irregulär ausgesprochene deutsche Wörter; gelegentlich kamen Dialektvarianten ins Blick- besser wohl: Hörfeld.

Auch was die lexikographische Thematisierung der orthographischen Identität der Lemmata angeht, liegen in der Art und Weise, wie Adelung die Problematik behandelt, die Wurzeln der späteren Zeit. Zunächst ist deutlich festzustellen, dass Adelung verschiedentlich orthographische Variabilität notiert. Dabei spielen sowohl diachrone als auch dialektale Varianten eine Rolle (vergl.  z.B. s.v. "Bängel" / "Bengel", "Wage" / "Waage", "Änte" / "Ente", "Kaiser" / "Keiser", "Brod" / "Brot", "Bokal" / "Pokal") (cf. Dill 1992:224ff). Die starke Tendenz zur normativen Grammatik-Auffassung führt nun dazu, dass im Zuge der Darstellung solcher Variationen immer wieder Ansätze gemacht werden, die orthographische Variantenvielfalt zu reduzieren und eine der Formen als die (grammatisch) richtige Schreibweise zu etablieren. Der Grammatiker setzte sich also mehr oder weniger explizit die Aufgabe, normierend in die Verschriftlichung des Deutschen einzugreifen. Nach welchen Prinzipien Adelung hier im einzelnen vorgeht, kann und soll an dieser Stelle nicht im Detail erörtert werden. Bekannt ist, dass er in Zweifelsfällen anfangs eher etymologische Schreibweisen favorisierte. Später orientierte er seine Entscheidungen jedoch stärker am Schreibusus seiner Zeit sowie an einer phonographischen Auffassung, nach der in der Orthographie die Merkmale der "hochdeutschen" Aussprache entscheidend sein sollten. Tatsache bleibt in jedem Fall die geschärfte Wahrnehmung verschiedener Schreibweisen eines Wortes und der darauf aufbauende Versuch, eine der konstatierten Varianten durch linguistische Argumentation als die "richtige" nachzuweisen bzw. durchzusetzen. Dass die Grammatiker der universalistisch orientierten Aufklärung wichtige Kräfte bei der Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache waren, ist an diesen Punkten unmittelbar mit Händen greifbar. Die vielen orthographischen Formen eines Wortes sollten durch eine einzige, möglichst rational gerechtfertigte Form ersetzt werden: vernünftig normierte Einheit statt verwirrend ungebändigter Vielheit.

Bevor dieser bei Adelung nachhaltig einsetzende Trend an einigen weiteren Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts weiterverfolgt werden soll, möchte ich hier nur noch kurz auf eine Eigentümlichkeit des damaligen lexikalischen Formbewusstseins hinweisen. Der Punkt betrifft die unterschiedliche Profilierung der Wörter, insofern ihre Phonetik oder ihre Orthographie thematisiert wird. In beiden Fällen wird die Identität bzw. Variabilität der Wörter, wie erläutert, hauptsächlich bei bestehender Formenvielfalt erörtert. Das bedeutet allerdings, dass auf phonetischem Feld hauptsächlich Fremdwörter interessant sind, orthographisch dagegen unterschiedslos der gesamte deutsche Wortschatz. Orthographisch werden potenziell alle deutschen Wörter problematisch, phonetisch nur ein vergleichsweise kleiner Teil. Vermutlich wird dies damit zusammenhängen, dass das lexikalische Formbewusstsein in der Orthographie wesentlich ausgeprägter und stärker normativ ausgerichtet ist als in der Phonetik. Hier scheint die Lexikographie sogar Teil eines übergeordneten Trends zu sein. Denn auch im öffentlichen Sprachbewusstsein spielen ja Diskussionen um die Legitimierung und ggf. Normierung der Schreibung eine wesentlich größere Rolle als in puncto Aussprache. Anders gesagt: dass die Orthographie der Wörter für ihre Identität mutmaßlich wichtiger ist als ihre Aussprache, zeigt sich auch in der Geschichte der einsprachigen Lexikographie.

Im Blick auf die grundsätzlichen Rahmenbedingungen der phonetischen und orthographischen Aufmerksamkeit ergeben sich in der Lexikographie des 19. Jahrhundert kaum bedeutende Änderungen. Die Aussprache wird weiterhin hauptsächlich bei Fremdwörtern, in denen im Deutschen nicht vorhandene Laute vorkommen, etwas ausführlicher zum Thema gemacht. Dabei zeigt sich auch die (bildungsbürgerliche) Tendenz, als richtige Aussprache diejenige anzunehmen, die für die Wörter in der Ursprungssprache gängig ist (cf. z.B. Campe 1813:XII (= Vorwort zur ersten Ausgabe), später etwas relativiert ebd. XIIIf (= Vorwort zur zweiten Ausgabe)). In systematischer Hinsicht steht darüber hinaus meistens die Akzentnotierung im Vordergrund (cf. z.B. Grimm 1854:LXII, 21; Sanders 1876:VII, 7)). Die Frage nach der richtigen Aussprache nativer deutscher Wörter angesichts der Dialektvielfalt wird entweder überhaupt nicht näher thematisiert (cf. z.B. Moritz 1793; Heyse 1833:Vorrede; Sanders 1876:VII, 6) oder in der Folge Adelungs lediglich mit pauschaler, kaum genauer reflektierter Entscheidung für hochdeutsche Mundarten beantwortet. Dass diese Bevorzugung letztlich nicht rational begründet werden kann, sofern man nicht einfach den (angeblich) herrschenden Usus in den Mittelpunkt stellt (cf. Grimm 1854:XIV, 3), ersieht man nicht zuletzt am seltsamen, um nicht zu sagen: hilflosen argumentatorischen Duktus, den die einführenden Erläuterungen mancher Wörterbücher in diesem Punkt annahmen. So bekundete etwa Heinsius seine Ansicht, dass es in ganz Deutschland keine "ganz fehlerfreie[n] Aussprache" [!] gebe, um dann jedoch für die Aussprache "im nördlichen Teil Obersachens" zu plädieren, da man dort "nicht singt, nicht lispelt und zischt, die Wörter weder breitet und dehnt, noch verschluckt und wegschwellt, und die Natur und Eigenthümlichkeit der Sprache am meisten bewahrt." (Heinsius 1828:XV). Dazu kam das Problem, dass Heinsius offen bekannte, nicht alle Wörter seines Buches tatsächlich auch einmal gehört zu haben. In diesen Fällen wollte er zu den "Regeln der Sprache" greifen, um beispielsweise die richtige Betonung aus der grammatisch interpretierten Schriftform abzuleiten: "Aber diese Regeln sind dürftig, und lassen uns schon bei dreifachen Zusammensetzungen im Stich." (ibd. XVI).

Auch bei der Frage, mit welchen symbolischen Mitteln man gegebenenfalls die Aussprache in den Wörterbüchern verdeutlichte, gab es noch lange Zeit nach Adelung kaum Fortschritte. Weiterhin bediente man sich dazu in recht unsystematischer Art und Weise der üblichen deutschen Buchstaben, die als notdürftiges Transkriptionsinventar genutzt wurden und um die Akzentzeichen zur Schärfung und Dehnung betonter Vokale erweitert waren. Relativ früh wurde allerdings schon die Problematik der zwei (Lang-) Vokale, die als phonetische Äquivalente für das Graphem <e> angesehen werden können, notiert (z.B. "Ehre" vs. "Erde", "(der) Weg" vs. "weggehen"). Heinsius führte deshalb ein drittes Dehnungszeichen "für das e, das wie ä klingt" ein (Heinsius 1828:XV, in anderer Form später übernommen z.B. bei Sanders 1876:VII, 7). War schon der Gebrauch dieser Zeichen innerhalb eines einzigen Wörterbuchs nicht im Detail harmonisiert, so variierte die Symbolvielfalt freilich noch um einiges, wenn man den Usus unterschiedlicher Wörterbücher betrachtet. Diese Vielfalt ist recht unübersichtlich und soll hier nicht im einzelnen erörtert werden. Als Beispiel möchte ich hier lediglich zwei phonetische Umschreibungsversuche für frz. "engagement" anführen: Campe gab dafür die Aussprache "Anggagemäng" an und konnte sich dabei auf das Vorwort stützen, wo er erläutert hatte, dass das <g> in französischen Wörtern als Transkription für den stimmhaften postalveolaren Frikativ benutzt werde. Heinsius notierte kommentarlos die Aussprache "Anghasch ´mangh". Später komplizierte sich die Situation noch dadurch, dass man im Zuge der gewachsenen indogermanischen Kenntnisse über die verwickelten Ursprünge und Verwandtschaftverhältnisse des Deutschen auch eigene Zeichen für Laute im Sanskrit, Awestischen, Russischen, Litauischen, Lettischen und Armenischen einführte (cf. Weigand 1909:VIII).

Generell bleibt festzuhalten, dass die Notierung der Aussprache nur ein sporadischer Punkt in der einsprachigen deutschen Lexikographie blieb und aufgrund der mangelhaften notierungstechnischen Möglichkeiten für die zeitgenössischen Wörterbuchnutzer - wenn überhaupt - dann vermutlich nur begrenzt fruchtbar gewesen ist. Dahinter steht natürlich letztlich auch der Umstand, dass es im damaligen Deutschland faktisch keine Aussprachenorm gab und vor dem Ende des 19. Jahrhunderts auch keine nachhaltigen Bemühungen zur Etablierung einer solchen Norm angestellt wurden (dazu jetzt resümierend v. Polenz 1999:).

Wie oben schon angedeutet, bleibt auch in puncto Orthographie die grundsätzliche Konstellation im 19. Jahrhundert sehr ähnlich wie bei Adelung. Einerseits notierte man angesichts der Favorisierung des geltenden Schreibusus zunächst die verschiedenen herrschenden orthographischen Varianten, andererseits fühlte man sich als (linguistisch versierter) Lexikograph offensichtlich dazu berufen, diese Variabilität mit Blick auf eine als vernünftig herausgestellte Form zu überwinden. An der Frage, nach welchen Prinzipien und Methoden man bei dieser Reduktion von Varianten vorgehen sollte, schieden sich freilich die lexikographischen Geister. Damit vollzogen die Wörterbuchschreiber bis zu einem gewissen Grad die Rechtschreibdebatte des 19. Jahrhunderts in den einsprachigen deutschen Lexika. Auch diesbezüglich kann und soll nicht auf die gesamte Breite der Orthographie-Diskussion eingegangen werden (zum Hintergrund cf. v. Polenz 1999:Kap. 6.6). Als Beispiel möchte ich lediglich wenige Stellungnahmen zitieren, aus der die Spannung dieses Teils des lexikalischen Formbewusstseins unmittelbar ablesbar ist.

Die Position von Heyse war in dieser Hinsicht sozusagen noch listig-zurückhaltend. Nachdem er für die orthographische Dimension seiner Sammlung die Orientierung am Schreibusus "und der in ihm waltenden Sprachgesetze" erläutert hatte, bekundete er, dass Entscheidungen in Rechtschreibfragen "in einem Wörterbuch nur vereinzelt und ohne vollständige Begründung gegeben werden [können])"; in diesem Zusammenhang verwies er - summarisch und optimistisch - auf die definitiven Ergebnisse der "wissenschaftlichen Grammatik" (alles Heyse 1833:XV). Etwas deutlicher war ungefähr zur selben Zeit schon Heinsius: "Aber er [d.i. der Wörterbuchschreiber (W.P.K.)] hat allerdings die Pflicht, da, wo der Gebrauch [d.i. der "Schreibgebrauch" (W.P.K.)] ihn nicht fesselt, oder wo dieser zweifelhaft ist, auf das Bessere hinzuführen, und in diesen Fällen der Ableitung und Sprachähnlichkeit zu folgen." (Heinsius 1828:XVII). Ähnlich äußerte sich später Sanders: "In Bezug auf die Orthographie gilt uns der allgemeine Schreibgebrauch als unumstößliche Richtschnur, in schwankenden Fällen haben wir uns immer nur nach reiflicher Erwägung der besonders angegebenen Gründe für eine bestimmte Schreibweise erklärt und uns dabei namentlich der möglichsten Folgerichtigkeit befleißigt." (cf. Sanders 1876:VII, 8). Die Resultate dieser Anwendung der "waltenden Sprachgesetze" (cf. Heyse), der Rücksichtnahme auf "Ableitung und Sprachähnlichkeit" (Heinsius), der "möglichsten Folgerichtigkeit" (cf. Sanders) oder allgemein der linguistisch-orthographischen Expertise (cf. Grimm 1854:LIV-LXII) waren nun zwar nicht völlig uneinheitlich. Sie führten jedoch in der deutschen Lexikographie nicht zu der gewünschten, rational legitimierten Einheitsorthographie; vermutlich war ihre Wirkung sogar eher kontraproduktiv, weil sie die Zahl der gebrauchten Varianten durch die quasi-normative Registrierung in einem Wörterbuch sogar steigerten und zu weiterer Reflexion über zusätzliche Varianten anregten. Auf den paradoxalen Charakter dieser Bewegung sei ausdrücklich hingewiesen: Einerseits sollte die rationale Thematisierung des orthographischen Formenreichtums zur Vereinheitlichung und damit zur Abschaffung des Formenreichtums führen. Andererseits inspirierte die lexikographische Thematisierung von Varianten offensichtlich das lexikalische Formbewusstsein der Zeit. Damit wiederum wurde das Nachdenken über die Orthographie gefördert, wodurch auch neue orthographische Doppelformen entstehen und in weiteren Kreisen benutzt werden konnten. Durch diesen Mechanismus, der sich möglicherweise im Sinne eines Effekts der "unsichtbaren Hand" beschreiben läßt und insofern quasi hinter dem Rücken der Sprecher/Schreiber abspielte (cf. Keller 1994), rückte das eigentlich angepeilte Ziel der Vereinheitlichung der Orthographie in noch weitere Ferne als zuvor. Dem sollte wiederum durch eine Steigerung der Thematisierung der Rechtschreibung begegnet werden…

Die Spannung zwischen der Registrierung orthographischer Varianten und dem (erfolglosen) Bemühen um Reduktion der Variantenvielfalt ist jedenfalls ein zentrales Kennzeichen des lexikalischen Formbewusstseins im 19. Jahrhundert - und dies sicher nicht nur in seiner einsprachigen Lexikographie.
 

4 Ausblick: Wörterbücher im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert ändern sich zunächst die Rahmenbedingungen für die lexikographische Notierung der orthographischen und der phonetischen Seite der Wörter. Daraus ergaben sich teilweise auch stark verschobene Aufmerksamkeiten des lexikalischen Formbewusstseins. Anhand einiger wichtiger einsprachiger Wörterbücher sollen hier kurz die Haupttendenzen dieses Umschwungs erläutert werden. Ich komme zunächst zur Orthographie:

Aus der amtlichen Normierung der deutschen Orthographie im Jahre 1902 folgte für die deutsche Sprachlexikographie die Möglichkeit, sich auf diese mehr oder weniger stabile und klare Richtschnur zu beziehen. Zunächst stützen sich also alle Wörterbücher unmissverständlich auf die amtliche Norm, wenn die Orthographie in den Blick gerät. Zumindest zwei Wörterbücher verharren laut Vorwort sogar kommentarlos auf diesem strikt normativ geprägten Standpunkt: "Für die Orthograpie ist die letzte Ausgabe des Duden (Leipzig 1957) maßgebend." (Klappenbach / Steinitz 1964: 04); "Die Rechtschreibung folgt den Empfehlungen der Kultusminister der deutschen Länder. Die Redaktion hat sich streng an diese Regeln gehalten." (Wahrig 1986/1991: 10).

Angesichts des Sprachusus, an dem sich die meisten Wörterbuchmacher des 20. Jahrhunderts erklärtermaßen orientierten, gibt es in den Werken jedoch immer wieder Anhaltspunkte dafür, dass gegebenenfalls auch die orthographische Variabilität mancher Wörter registriert wurde. Schließlich hat die amtliche Normierung der deutschen Rechtschreibung niemals zu einem völligen Stillstand des Schriftsprachwandels geführt. Entsprechend sollten derartige Entwicklungen in den gebrauchsorientierten Wörterbüchern, so zumindest das Programm, verzeichnet werden. Diesbezüglich gibt es allerdings einige bezeichnende Unterschiede. Auf welche Art und Weise man hier im einzelnen vorging, war und ist fast ebenso uneinheitlich wie die lexikographischen Perspektiven der orthographischen Normierung im 19. Jahrhundert. Zunächst bekundete man ausdrücklich, dass diatopische Varianten erfasst werden sollten:
 

"Die Rechtschreibung ist natürlich die heute durchgeführte einheitliche, und zwar geben die fettgedruckten Wörter diese wieder. Doch sind am Anfang die Abweichungen der bayerischen und österreichischen Schreibung, sowie erlaubte Doppelschreibungen noch nicht regelmäßig mit angeführt worden. Später ist dies unter ausdrücklicher Hervorhebung der amtlichen Schreibung nach Dudens Orthographischem Wörterbuch geschehen."
(Weigand 1909:VIIIf)
Diese diatopische Orientierung dominierte aber längst nicht alle Wörterbücher. Andere Sammlungen beschränkten sich im Vorwort sehr lakonisch auf die Erläuterung des technischen Mittels zur Notierung orthographischer Variabilität, das in derselben Funktion schon in der Lexikographie des 17. Jahrhunderts angewandt wurde: "Nebenformen, die von der heute gültigen Rechtschreibung nicht vertreten werden, erscheinen nicht unter der Hauptform. Sie stehen als bloße Verweisform: Canoe: [siehe] Kanu" (DUDEN 1993:9). In welchem Maße und nach welchen Kriterien solche Verweisformen gesammelt und aufbereitet wurden, ist aus der methodologischen Vorbemerkung im weiteren nicht ersichtlich.

Warum in einem anderen Wörterbuch in diesem Punkt nur eine einzige Form der orthographischen Variabilität herausgegriffen und damit lexikographisch gewürdigt wurde, nämlich die ph/f-Schreibung in Fremdwörtern, ist ziemlich unklar und wohl kaum linguistisch zu rechtfertigen. Jedenfalls findet man dort für diese Bevorzugung einer der vielen möglichen orthographischen Variationstypen keine nähere Begründung:
 

"Die Rechtschreibung folgt den durch einen Beschluß der Konferenz der Kultusminister von 1955 autorisierten DUDEN-Regeln und Schreibweisen (…) Obwohl im Deutschen bei der ‘ph’-Schreibung von Wörtern mehr und mehr die Tendenz deutlich wird, das ‘ph’ durch ‘f’ zu ersetzen, wird im vorliegenden Werk aus Gründen der Einheitlichkeit unter der Variante mit ‘ph’ definiert; die Schreibung mit ‘f’ wird als orthographische Variante oder eindeutschende Schreibung angeführt."
(Brockhaus - Wahrig 1980: 9)
Anhand dieser Stichproben aus den großen einsprachigen deutschen Wörterbüchern des 20. Jahrhunderts lässt sich zumindest die Tendenz der orthographischen Aufmerksamkeit herausfiltern. Sie ist offensichtlich von einem grundsätzlichen Zwiespalt geprägt. Einerseits folgten die Wörterbücher bei der Verzeichnung der Wörter den amtlichen Normierungsvorgaben, andererseits fühlten sie sich durch ihre generell deskriptive Anlage offensichtlich dazu verpflichtet, existierende orthographische Varianten zumindest teilweise aufzuführen. Daß diese Beachtung der orthographischen Doppel- oder Mehrfachformen alles andere als systematisch oder gar empirisch umfassend erfolgte, lässt sich schon aus den obigen Erörterungen vermuten. Der lexikographische Blick war vermutlich recht flüchtig und schwankend: Die tatsächliche orthographische Schwankungsbreite der deutschen Gegenwartssprache ist in den einschlägigen einsprachigen Wörterbüchern sehr wahrscheinlich nur recht ausschnitthaft und ohne feste Regeln erfasst. Dabei gibt es deutliche Hinweise dafür, dass diese Variabilität trotz der geltenden Normierungspraxis und des bekannten Normierungsbedürfnis der Schreiber kein marginales Problem des Deutschen darstellt (cf. z.B. die interessanten Hinweise und Sammlungen dazu in Muthmann 1994: Kap. 2).

Die Thematisierung der Aussprache in der neuhochdeutschen Sprachlexikographie steht zunächst generell unter der Annahme, dass die Phonetik der Lemmata nur in bestimmten Fällen anzugeben ist. Die Notierung der Aussprache erfolgt nämlich nach übereinstimmender Auskunft der Wörterbücher nur dann, wenn bestimmte Lexeme sozusagen besondere phonetische Stolpersteine darstellen. An und für sich ist die Phonetik des deutschen Wortschatzes anscheinend nicht der Rede wert. Dies ist insofern verständlich, als man sich offensichtlich an kompetenten (phonetisch versierten?) Sprechern des Deutschen als Benutzern orientiert:
 

"Die Angaben zur Aussprache beschränken sich auf Wörter oder Wortteile, deren Aussprache Schwierigkeiten bereitet."
(DUDEN 1993: 9)

"Die allgemeinen Ausspracheregeln der deutschen Sprache werden als bekannt vorausgesetzt. (…) Aussprachehilfen werden für alle Wörter gegeben, die von den allgemeinen Ausspracheregeln abweichen, also vor allem für die Fremdwörter."

(Klappenbach / Steinitz 1964: 026)

"Die Aussprache zu einem Wort wird nur dann angegeben, wenn sie von den deutschen Ausspracheregeln abweicht."

(Brockhaus - Wahrig 1980:10; mit vorrangiger Betonung der Akzentsetzung cf. dazu auch Wahrig 1986/1991: 10).
Bei der konditionierten Angabe von phonetischer Information ist gegenüber früher auffällig, dass dialektale Variation überhaupt nicht mehr in den Blick gerät. Stattdessen steht die Aussprache von Fremdwörtern im Mittelpunkt. Ob mit Absicht der Verfasser oder nicht, die Wörterbücher stehen im Dienst der Vereinheitlichung der deutschen Standardaussprache. Diesbezüglich gibt es darüber hinaus den starken Trend, die Lautung der Fremdwörter in der Ursprungssprache als lexikographische Norm anzugeben. Diese Bevorzugung der fremden Lautung ist tendenziell problematisch, weil die Wörterbücher damit zumindest teilweise ihre proklamierte Deskriptivität verlassen und sich mehr oder weniger offen zu normgebenden Instanzen für die Aussprache aufschwingen (cf. z. B. Pawlowski 1986:316). Generell ist zudem zu vermerken, dass in den Wörterbüchern so gut wie keine expliziten Angaben dazu gemacht werden, wie die jeweiligen Formen der notierten "richtigen" Aussprachen ermittelt wurden. Es steht zu vermuten, dass sich wenigstens zu Anfang an der Aussprachenormung von Theodor Siebs orientiert wurde, die bekanntlich seit 1910 als Schulnorm verbindlich war und erst seit den 60er Jahren von einer mehr gebrauchsorientierten Registrierung der Aussprache im DUDEN-Aussprachewörterbuch ((Hg.) M. Mangold) abgelöst wurde. Auch auf phonetischem Feld ergibt sich also ein gewisser Zwiespalt zwischen dem deskriptivem Anspruch und der zumindest impliziten Tendenz zur Präskription in den großen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen.

Außerdem gibt es nach der Analyse von Pawlowski starke Belege dafür, dass die Behandlung der Aussprache in den einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen einiges zu wünschen übrig lässt. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass phonetische Variabilität genauso wie orthographischer Formenreichtum nicht unbedingt nur eine Randerscheinung des Deutschen zu sein scheint (cf. Muthmann 1994: Kap 1). Mit der gewissen Ausnahme des DUDEN-Wörterbuchs zeichnen sich die einsprachigen Wörterbücher des Deutschen dadurch aus, dass dort die Aussprache relativ unsystematisch, nicht selten nachlässig und gedankenlos, bisweilen sogar inkompetent behandelt wird (cf. Pawlowski 1986). Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das symbolische Mittel zur exakten phonetischen Notierung erst in der letzten Zeit lexikographisch wirklich fruchtbar gemacht wurde. Während das Internationale Phonetische Alphabet in der ersten Fassung bereits seit 1888 zur Verfügung steht, wurden in vielen Wörterbüchern dieses Jahrhunderts immer noch dieselben, faktisch völlig unzureichenden symbolischen Mittel benutzt wie bei Adelung im 18. Jahrhundert, also die behelfsmäßig erweiterten und punktuell erläuterten Laut-Buchstaben-Zuordnungen der deutschen Orthographie (cf. z.B. Klappenbach / Steinitz 1964: 026f).
 

5. Fazit mit Blick auf die zukünftige Lexikographie

Aus dem oben erläuterten Zustand im 20. Jahrhundert und mit Blick auf den Vorlauf seit dem 17. Jahrhundert lassen sich folgende vorläufige Ergebnisse und Schlussfolgerungen zur Geschichte und Gegenwart des lexikalischen Formbewusstseins ziehen, insofern es sich in deutschen Wörterbüchern verkörpert. Gemäß obigen Darlegungen möchte ich Orthographie und Aussprache zunächst getrennt resümieren.

Zu Beginn der deutschen Lexikographie wurde die (variable) Schriftform der Wörter kaum näher erörtert. Auf diesem Feld liegt in der Normung der deutschen Schriftsprache am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Scheidepunkt. Während man in der frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert noch relativ zögernd, im 19. Jahrhundert dann verschärft orthographische Identität und Variabilität notierte und dabei immer wieder Versuche zur Variantenreduzierung unternahm, wird im 20. Jahrhundert zunächst die amtliche Rechtschreibung als Richtschnur gewählt. Orthographische Varianten werden freilich seitdem nicht völlig ignoriert, ihre lexikographische Erfassung erfolgt jedoch offenbar weitgehend impressionistisch. Das Verhältnis von Orientierung an der amtlichen Schreibung und Verpflichtung gegenüber dem realen Schreibgebrauch und seinen Varianten wird in den methodologischen Bemerkungen der Wörterbücher faktisch weitgehend ignoriert. Möglicherweise steckt dahinter die Spannung zwischen deskriptiver Grundauffassung und mehr oder weniger normativen Tendenzen, die den Wörterbuchverfassern nicht recht bewusst sind oder von ihnen zumindest nicht explizit thematisiert werden. Tendenziell scheint man überdies seit jeher anzunehmen, dass die orthographische Identität der Wörter nur dann als gesichert gilt, wenn nur eine einzige Form vorliegt.

Mehr noch als die Orthographie ist die phonetische Form der Wörter seit jeher ein Stiefkind der einsprachigen Lexikographie. Wurde sie vor dem 20. Jahrhundert wenn überhaupt, dann lediglich unter der Perspektive der Akzentsetzung und mit dialektalem Horizont thematisiert, so verschiebt sich die phonetische Aufmerksamkeit im 20. Jahrhundert zunehmend allein auf die Aussprache der Fremdwörter. Sie gaben allerdings schon früher immer wieder Anlässe zu phonetischen Betrachtungen. Die Verlagerung zur alleinigen Thematisierung der Fremdwörter geschieht zu ungunsten der phonetischen Dialektvarianten und steht nicht zuletzt in engem Zusammenhang mit der facettenreichen Durchsetzung einer deutschen Standardaussprache. Während die exakte Notierung der Aussprache ehedem bereits deshalb nur notdürftig und unsystematisch erfolgen konnte, weil kein ausgearbeitetes phonetisches Transkriptionsystem zur Verfügung stand, gerät die Thematisierung der (richtigen) Aussprache im 20. Jahrhundert aus anderen methodologischen Gründen zu einem teilweise recht missglückten Unternehmen. Aus den Wörterbüchern lässt sich nämlich nicht genau entnehmen, warum und vor welchem Horizont bestimmte phonetische Aussagen verzeichnet wurden und welche Prinzipien oder Normen bei der Erstellung dieser Angaben zur Geltung gekommen sind.

Sowohl für die Orthographie als auch für die Phonetik der lexikographisch erfassten Wörter lässt sich im Blick auf die Wörterbücher des 20. Jahrhunderts letztendlich festhalten, dass nicht in allen Fällen klar ist, wodurch die Informationen zur Identität bzw. Variabilität der Wörter legitimiert sind. Unklar bleibt insbesondere, welchen Status die verzeichneten orthographischen Varianten (auch gegenüber den nicht-verzeichneten) besitzen und in welchen Legitimitäten manche phonetische Angaben eigentlich wurzeln.

Diese Zustandsbeschreibung hat Folgen für die Bewertung der einsprachigen deutschen Wörterbücher. Um der deutschen Lexikographie mit Nachdruck das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zurechnen zu können, müssten derlei Fragen von den Lexikographen zukünftig wohl etwas aufmerksamer und präziser erörtert werden als bisher. Dabei sollte auch daran gedacht werden, dass phonetische Angaben für ein gutes einsprachiges deutsches Wörterbuch nicht unerlässlich sind. Dies beweist beispielsweise das allerdings historisch-semantisch ausgerichtete Sprachwörterbuch von Paul 1992. Besonders deutlich sollte in jedem Fall ausdrücklich dazu Stellung genommen werden, inwiefern manche orthographische oder phonetische Angaben tatsächlich ausschließlich deskriptiv erhoben wurden oder möglicherweise aus bestimmten, mehr oder weniger autonomen Setzungen der Wörterbuch-Verfasser hervorgegangen sind. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich behaupten, dass meines Erachtens gewisse normative Gehalte und Entscheidungen in den Wörterbüchern entgegen dem weithin deskriptiven Selbstverständnis der Lexikographen durchaus nicht illegitim sind, sofern sie nur ausdrücklich als solche thematisiert bzw. vermerkt werden.

Aber vermutlich werden auch auf diesem Feld wieder einmal eher technische Revolutionen als methodologische Reflexionen neue Entwicklungen in Gang setzen. So ist es ja beispielsweise durchaus denkbar, dass in künftigen elektronischen Wörterbüchern die Aussprache tatsächlich hörbar ist. Aber auch dann sollte der Benutzer darüber informiert werden, warum und nach welchen Prinzipien gerade diese Aussprache (bzw. gerade der Sprecher bzw. die Sprecherin) ausgewählt wurde. Ähnliches gilt für die Verzeichnung von orthographischen Varianten, die mit den heutigen technischen Möglichkeiten sicher sehr viel umfassender erhoben und dokumentiert werden könnten als zuvor.



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