Linguistik online 4, 3/99


Technischer Hinweis:
Der vorliegende Text verzichtet bewusst auf die diakritischen Zeichen, die normalerweise für die Schreibung des Polnischen verwendet werden, und verwendet statt dessen jeweils nur den zugrundeliegenden einfachen Buchstaben. Eine PDF-Datei mit den Sonderzeichen können Sie hier herunterladen.


Gibt es ein Perfekt im modernen Polnisch?

und (Frankfurt/Oder)



1 Gibt es ein Perfekt im modernen Polnisch?

Die Grammatikschreibung des Polnischen gibt - neben Gegenwarts- und Zukunftstempora - nur ein Vergangenheitstempus an, das Präteritum (czas przeszly) (czytalem). Daneben wird zuweilen noch das aus dem modernen Sprachgebrauch geschwundene Plusquamperfekt (czas zaprzeszly) (czytalem byl) erwähnt. Nur selten wird die Möglichkeit in Erwägung gezogen und diskutiert, ob gerade vor unseren Augen neben dem czas przeszly ein weiteres Tempus entsteht. Es wird - wenn es denn ein neues Tempus ist - aus einer finiten Form des Verbs miec: 'haben' und einem Partizip II eines Verbs gebildet. In der Tat treten im modernen, besonders im umgangssprachlichen Polnisch immer häufiger Formen wie mam zrobione zadanie '(ich) habe gemacht die Aufgabe' auf. Sie entsprechen in vieler Hinsicht dem Perfekt der westlichen Nachbarsprachen des Polnischen. Sie lassen sich mit den entsprechenden Lexemen, mit einer analogen Struktur (nämlich einer Form des Verbs haben + einem Partizip II und einem Substantiv) wiedergeben:

Dt: Ich habe die Aufgabe gemacht (Perfekt)

Engl.: I have made the homework (present perfective)

Frz.: J’ai fait le devoir (passé composé)

Sp.: He hecho el deber (pretérito perfecto (actual))

Was also spricht dagegen, Wendungen wie mam zrobione zadanie als Realisierungen eines neuen, in die Standardgrammatiken des Polnischen noch nicht aufgenommenen Tempus Perfekt zu interpretieren? Es stünde dann als Perfekt neben einer Präteritumsform zrobilem.Die Aufgabe der Grammatiker bestünde darin, die Regeln, die den Gebrauch dieser Form bestimmen, zu beschreiben und klar herauszuarbeiten, wann das Präteritum und wann das Perfekt im Polnischen benutzt wird. Es kann sich herausstellen, dass dies ein schwieriges Unterfangen ist; auch in den erwähnten Nachbarsprachen ist die PRAETERITUM-PERFECTUM1-Unterscheidung diffizil. Sie stellt für den Linguisten, der die jeweilige Sprache und ihr Temporalsystem analysiert, eine komplexe Problematik dar. Der Unterschied zwischen den synthetischen (PRAETERITUM) und den analytischen (PERFECTUM) (mit der Präsensform des Hilfsverbs habere + Partizip II gebildeten) Vergangenheitstempora stellt auch den Sprachlerner jeder dieser Sprachen vor große Probleme. Ein wesentlicher Grund für diese Probleme liegt darin, dass keine dieser Sprachen monolithisch ist. Vielmehr sind sie Diasysteme im Coseriuschen Sinn. In ihnen lassen sich Subsysteme unterscheiden, die unter anderem darin differieren, dass in ihnen die Opposition PRAETERITUM-PERFECTUM verschieden strukturiert ist. Im Spanischen, Französischen, Englischen und Deutschen bestehen bei der PRAETERITUM-PERFECTUM-Opposition Unterschiede im Register (gehobene Sprache vs. Umgangssprache) sowohl diaphasisch als diastratisch (vom sozialen Stand der Sprecher abhängend), sowohl in diachronischer Hinsicht (ältere vs. modernere Sprache), als auch im regionalen Gebrauch (z. B. im Deutschen Süddeutsch vs. Norddeutsch) (diatopisch).

Wir versuchen, der Frage nachzugehen, ob man für das moderne Polnisch das Tempusinventar um ein Tempus Perfekt erweitern muss. Dabei wollen wir folgendermaßen vorgehen. Wir werden zunächst einen Blick auf die Entstehung des Perfekts in den genannten Sprachen werfen. Wir berichten dann über Forschungen, die bereits zur miec + Partizip-Konstruktion vorliegen; dann berichten wir von einer empirischen Studie zum Gebrauch dieser Konstruktion und greifen dann noch einmal die Frage nach der Einschätzung der Form auf.
 

2 Das Perfekt und seine Entstehung
 

2.1 Die Entstehung des Perfekts in anderen Sprachen

Das PERFECTUM ist in den erwähnten Sprachen auf relativ analoge Weise entstanden. Am Anfang stand eine Konstruktion des Verbs habere mit einem Akkusativobjekt, das seinerseits aus einem Substantiv und einem Adjektivattribut bestand.

Habeo oppidum oppugnatum 'ich habe die Stadt (als) eroberte'. In diesem Satz hatte das Verb habere die Funktion eines Vollverbs und bildete das Prädikat, das ein Akkusativobjekt regierte. Das Akkusativobjekt bestand aus einem Substantiv und einem mit ihm kongruierenden partizipialen Attribut. Diese Konstruktion wurde im Laufe der Zeit uminterpretiert. Die Weitergabe von Sprachstrukturen an die nächste Generation erfolgt immer auf einem indirekten Weg. Die Kinder, die Sprachen lernen, haben keinen direkten Zugriff zu deren Strukturierungen. Sie werden vielmehr mit sprachlichen Äußerungen ihrer Gesprächspartner konfrontiert und setzen, da sie aus dem Kontext die Kommunikationsinhalte erschließen können, einen Verstehensprozess in Gang. Das Sprachenlernen besteht dabei erstens darin, dass sie Hypothesen über die Bedeutungen und Funktionen der von ihnen wahrgenommenen Elemente aufstellen. Es besteht zweitens darin, dass die aufgestellten Hypothesen ständig überprüft, korrigiert und modifiziert werden, bis sie endlich in etwa dem Sprachgebrauch der die Lerner umgebenden Sprecher entsprechen. Kinder haben also keinen direkten Zugang zur langue, sondern nur zur parole; sie müssen eine eigene langue 2aufbauen, und dabei können sie nur näherungsweise eine Übereinstimmung mit den langues der sie umgebenden Sprachteilnehmer erreichen, mit einer Menge von individuell strukturierten langues, die untereinander in Details wiederum nicht deckungsgleich sind. - Es handelt sich, um den Vorgang wieder anders, nämlich semantisch, zu charakterisieren, um ein Oszillieren zwischen Bedeutung und Bezeichnung. Der Lernende wird mit Lautketten konfrontiert, er erkennt die zu bezeichnenden Realitäten und konstruiert die Bedeutungen, d. h. die Kategorien, mit denen eben jene Realität erfasst wird. Im Fall der Entwicklung zu einem Tempus PERFECTUM setzt sich immer mehr eine temporale Bedeutung durch. Mit habeo oppugnatum oppidum wird immer auf einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang (des Eroberns) referiert. So kann diese Konstruktion als zeitlich aufgefasst werden. Hat sich diese Bedeutung einmal durchgesetzt, so können damit auch Sachverhalte bezeichnet werden, die von der ursprünglichen Bedeutung, dass nämlich das Objekt "gehabt", "besessen" wird, nicht mehr abgedeckt sind: bei ich habe es verloren besteht dieses Besitzverhältnis gerade nicht mehr, bei ich habe gesagt fehlt die Angabe eines im Besitz befindlichen Objektes. - Bei dem beschriebenen Sprachwandelvorgang finden verschiedene Umfunktionalisierungen statt; das Vollverb habere wird zum Hilfsverb; das Partizipialattribut des Akkusativobjekts wird zum grammatischen Prädikatsteil. Das Akkusativobjekt wird nicht vom Verb haben im Präsens regiert, sondern von einem im Perfekt stehenden analytischen Verb occupare. Ganz analog spielten sich diese Vorgänge3 im Französischen, Spanischen, Englischen und Deutschen ab. Dabei handelt es sich um Prozesse der Grammatikalisierung, eines Phänomens, das Meillet (1912: 385) in seiner noch heute gültigen und wieder viel zitierten Formulierung beschreibt als

"...le passage d'un mot autonome au r™le d’élément grammatical" ('Übergang eines autonomen Wortes in die Rolle eines grammatischen Elements') und "...l'attribution du caractüre grammatical ą un mot jadis autonome,..." ('Zuweisung eines grammatischen Charakters an ein zuvor autonomes Wort')
Diese Tempusbildung wird typologisch in zwei größere Zusammenhänge eingeordnet:

1. in einen typologisch interpretierbaren Rahmen der allgemeinen Entwicklung der indogermanischen Sprachen vom synthetischen zum analytischen Sprachtyp,

2. in einem Entwicklungszusammenhang, bei dem Modalverben oder modalisierende Verben bzw. Verben, die Aspekte ausdrücken, zu Hilfsverben umfunktioniert werden, die an der Tempusbildung beteiligt sind; dabei wird wieder die von der lateinischen Grammtik her gewohnte Symmetrie von Tempora hergestellt, die dem Zeitbezug Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit entspricht. Das romanische Futur entsteht aus dem modalen Ausdruck habeo + Infinitiv ('ich habe zu machen'> 'muss machen', > 'werde machen'), das englische aus den Modalverben shall/will, das deutsche aus dem Verb werden.

2.2 Forschungen zum Polnischen4

In der dürftigen, aber sehr aufschlussreichen polonistischen Literatur zu diesem Thema geht es nicht so sehr um die Frage, wie üblich die Form schon geworden ist, als vielmehr um Versuche, die Form zu klassifizieren.

Schon im Jahre 1903 hat sich Nitsch (1913: 105) für eine in Pommern angetroffene Konstruktion on ma to miejsce sprzedane 'er hat den Platz verkauft' interessiert. Die Präsenz ähnlicher Beispiele ausschließlich in Pommern und in Kaschuben könnte einfach durch den Einfluss der deutschen Sprache erklärt werden. Mehrere Konstruktionen dieses Typs hat Nitsch jedoch auch in der Umgangssprache polnischer Intelligenz in verschiedenen anderen Landesteilen gefunden (1913: 102). - Nitsch ist der erste, der diese Konstruktion als einen "Keim" der Kategorie "zusammengesetztes Vergangenheitstempus" erfasst hat. Er weist in dem oben genannten Beispiel vor allem auf den starken semantischen Widerspruch, zwischen miec 'haben' (als Vollverb 'besitzen') und sprzedaŤ 'verkaufen' hin. Verkaufen heißt gerade 'nicht mehr haben'. Miec könne also in diesem Satz nicht mehr in seiner ursprünglichen lexikalischen Bedeutung verstanden werden.

Ein halbes Jahrhundert später hat Pisarkowa (1964) einzelne Phasen des laut Nitsch bereits laufenden Prozesses der Herauskristallisierung einer neuen Tempusform erarbeitet und in ihren Untersuchungen gleichzeitig erste Anzeichen der Etablierung des neuen Tempus festgestellt. Diese Anzeichen seien:

1. Die Tatsache, dass das Objekt als eine Komponente der Konstruktion an Bedeutung verliert. Es tritt in manchen Sätzen gar nicht oder ausschließlich in Form eines Pronomens auf z. B. Mam to zastrzezone w kontrakci 'Ich habe das im Kontrakt vorbehalten' (Dąbrowska, Noce i Dnie II: 110)

2. Es gibt keine Kongruenz zwischen den Genera; das Genus des im Satz nicht genannten Objektes stimmt nicht mit dem Genus des Partizips überein.
z. B. Zrobiles te prace (Fem.)? Mam juz posprawdzane (Neutr.) we wszystkich slownikach.. 'Hast du die Arbeit gemacht? Ich habe in allen Wörterbüchern nachgeprüft.' (Beispiel von Pisarkowa, 1984: 58)
In beiden Beispielsätzen steht das Partizip im Neutrum ohne Kongruenz mit dem Genus des Objektes.

3. Die Bedeutung dieser Konstruktion deckt sich zum Teil mit der Bedeutung des PERFECTUMS bzw. PLUSQUAMPERFECTUMS. Die Ausdrücke; z. B.: mam zrobione (przeczytane, napisane) können bedeuten: 'ich habe gemacht (gelesen, geschrieben)', sie können aber auch als 'es wurde mir gemacht (gelesen, geschrieben)' verstanden werden. Wenn es sich um die erste Bedeutung handelt, wenn also das Subjekt der Ausführende der im Partizip ausgedrückten Tätigkeit ist, handelt es sich um eine Konstruktion, die stark den zusammengesetzten Tempora ähnelt.

Laut Andrzej Koronczewski (1993) ist diese Konstruktion hingegen als eine Variante der Struktur byc + passives Präteritalpartizip auf -n, -t zu betrachten. Er bezeichnet sie als "Perfektum Possessivum Mediopassivi", das aus dem Bedürfnis entstehen sei, den Benefiziar einer Handlung bestimmen zu können, d.h. ein durch Dativ ausgedrücktes weiteres Objekt zu benutzen. Da sowohl die Struktur (*obiad jest mi zamowiony 'das Mittagessen ist mir bestellt') als auch das Bestimmen des Benefiziens durch Possessivpronomen (moj obiad jest zamowiony 'mein Mittagessen ist bestellt') im Polnischen nicht üblich sind, wird die Struktur (mam zamowiony obiad  'ich habe das Mittagessen bestellt', etwa 'ich habe ein bestelltes Mittagessen') gebildet. Solange der betrachteten Konstruktion keine Dativform als indirektes Objekt hinzugefügt werden kann, kann laut Koronczewski von einer Tempusform keine Rede sein. Entscheidend ist für ihn also ein Test mit der Einführung eines Dativs und nicht nur, wie bei Pisarkowa, das Feststellen des Zusammenhangs zwischen Partizip und Objekt oder die Bestimmung des Grades der Polysemie.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass einerseits die Entwicklung der Konstruktion miec 'haben' (Präs./Prät.) + Objekt + passives Präteritalpartizip auf -n, -t hin zu einer analytischen Vergangenheitsform in allen dargestellten Ansätzen für möglich gehalten wird. Keiner der genannten Autoren behauptet jedoch, dass der betrachteten Struktur bereits ein fester Platz im Tempussystem des Polnischen zugewiesen werden kann.

In welcher Phase der Entwicklung zu einer grammatischen Form befindet sich die Struktur? Ist die schon am Anfang unseres Jahrhunderts aufgestellte Hypothese überhaupt richtig, d. h. befindet sich die Konstruktion wirklich auf dem vermuteten Entwicklungsweg?

Eine synchronische Untersuchung der Konstruktion miec 'haben' (Präs./Prät.) + Objekt + passives Präteritalpartizip auf -n, -t im Polnischen und die Einblicke in die Geschichte der Vergangenheitstempora im Deutschen, Englischen und Französischen sind die Bestandteile einer Analyse, die mehr Licht auf besagte Problematik werfen soll.
 

2.3 Ein Fall von Grammatikalisierung

Ausgangspunkt für unsere synchronische Untersuchung bildet, wie gesagt, die genaue Klassifizierung dieser Art von Sprachwandel.

"...le passage d’un mot autonome au rôle d’élément grammatical" 'der Übergang eines autonomen Wortes in die Rolle eines grammatischen Elements' und "...l’attribution du caractüre grammatical ą un mot jadis autonome,..." 'Die Zuweisung eines grammatischen Charakters an einst autonomes Wort' (Meillet 1912: 385).

Die Hypothese, dass sich die Konstruktion miec+ Objektsubstantiv + Part. Prät. als Attribut zu einem Vergangenheitstempus entwickelt, bedeutet gemäß der Definition von Meillet nichts anderes als die Vermutung, dass ein Lexem, das früher ausschließlich lexikalische Bedeutung hatte, schrittweise eine grammatische Funktion übernimmt.

Die Frage nach dem Verlauf solcher Prozesse ist nicht neu. Einen Überblick über die Vorgänger der aktuellen Grammatikalisierungsforschung gibt Lehmann (1995: 1-8). Eine theoretische Basis für die hier beschriebene Fallstudie bilden neuere Beiträge zur Grammatikalisierungstheorie, hauptsächlich von Talmy Givón und Christian Lehmann. Diese bekennen sich zu der seit den Anfängen der Grammatikalisierungstheorie herrschenden Charakteristik des Grammatikalisierungsprozesses als eines graduellen Vorgangs und nehmen eine Unterteilung dieses Prozesses vor, die Diewald in Anlehnung an Givón und Lehmann folgendermaßen schematisiert.

Abb. 1: Grammatikalisierungsphasen in Anlehnung an Lehmann



Ebene: Diskurs > Syntax > Morphologie > Morphophonologie

Form: Freie Kombin. > Syntagma > Klitisierung > Affix > phonol. Merkm. >Null

Inhalt: lexikalische Bedeutung > grammatische Bedeutung



nach Diewald (1997: 18)

Dieses Skala verdeutlicht, dass es die Grammatikalisierungsforschung mit Übergängen auf verschiedenen linguistischen Ebenen von Lexikon und Grammatik, zu tun hat.

Der auf diese Weise dargestellte Grammatikalisierungsprozess hat einen kontinuierlichen Charakter, d. h. die Entwicklung entlang der Grammatikalisierungsskala nimmt die Form einer Spirale an. Formen, die untergehen und ihren Platz gegen Ende der Skala haben, können also durch Formen ersetzt werden, die am Anfang der Skala platziert werden. Aus synthetischen Formen können analytische entstehen. Diese können synthetisch werden und wiederum durch analytische ersetzt werden: laudabo> laudare habeo> (je) louerai> je vais louer. Die erste und die letzte der oben vorgestellten Grammatikalisierungsphasen sind also gewissermaßen konventionell festgelegt.

Betrachtet man die Grammatikalisierungsskala, so wird klar, dass sie sich nach Kriterien, welche die Autonomie eines Zeichens beschreiben, entwickelt. Je mehr sich ein Zeichen entlang der Skala von links nach rechts bewegt, desto mehr verliert es seine Unabhängigkeit. Den Grad an Grammatikalisierung eines Zeichens zu messen, heißt, den Grad seiner Autonomie festzusetzen. Dabei stehen nota bene Autonomie und Grammatikalisierung in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander.

Die polnische Konstruktion sollte sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch untersucht werden. Bei der Formulierung seiner Grammatikalisierungsparameter berücksichtigte Lehmann (1995) die beiden Aspekte jeder linguistischen Operation.

Abb. 2: Grammatikalisierungsparameter
 

  Paradigmatisch Syntagmatisch
Gewicht Integrität Skopus
Kohäsion Paradigmatizität Fügungsenge
Variabilität Paradigmatische Variabilität Syntagmatische Variabilität

(nach Lehmann 1995: 306)

An dieser Stelle muss betont werden, dass die genannten Parameter nicht Prozesse, sondern Eigenschaften von Zeichen darstellen. Was sie definieren, ist nicht Grammatikalisierung, sondern die Autonomie eines Zeichens, d. h. der Grad, zu dem ein Zeichen grammatikalisiert ist. Erst die Variation dieser Eigenschaften, das Steigen oder Sinken des Grades eines Parameters bewirken einen Prozess. Ein Grammatikalisierungsprozess besteht demnach aus einem wechselseitigen Steigen und Sinken aller sechs Parameter.
 

3 Empirische Studie.
 

3.1 Die Untersuchung. Durchführung und Ergebnisse.

Der Grammatikalisierungsgrad der betrachteten Konstruktion sollte anhand einer synchronischen Untersuchung festgestellt werden. Es wurde ein Fragekatalog mit 25 umgangssprachlich gehaltenen Sätzen mit der behandelten Konstruktion erstellt. Dazu wurden zielgerichtet solche Sätze ausgewählt, die über Eigenschaften verfügen, die bei der Bemessung des Grammatikalisierungsgrades einer Konstruktion relevant sein können. Der Fragebogen wurde in Form einer Tabelle erstellt. Den Informanten, polnischen Oberschülern im Alter von 16-18 Jahren, wurde die Aufgabe gestellt, jeden der 25 angeführten Sätze nach 5 Kriterien zu charakterisieren:

1. Niemand sagt so.

2. Keine korrekte Form, so kann man es nicht sagen; ich würde sagen:...

3. Man kann so sagen, aber nur in der Umgangssprache. - In der literarischen Sprache würde das lauten:....

4. Es ist richtig, sowohl umgangssprachlich als auch in der literarischen Sprache.

5. Es ist richtig, passt aber vor allem in die literarische Sprache.

Diese Kriterien drücken den Grad der Akzeptanz eines Satzes aus. Die Informanten werden in 2. und 3. nicht nur gebeten, ihre Bewertung abzugeben, sondern im Falle fehlender Akzeptanz (d. h. wenn ein Satz als nicht korrekt eingeschätzt oder als nur umgangssprachlich zugelassen wird) auch "ihre richtige", "akzeptable" Version des jeweiligen Satzes anzugeben.

Die Sätze lauten:

1.  Czy rektor rzeczywiscie ma utrudniany (Akk. Masc.) dostep (Akk. Masc.) do informacji?

'Hat der Rektor wirklich einen erschwerten Zugang zu Informationen?'
2.  Nie pamieta co sie stalo, mial juz wtedy wypite.
'Er erinnert sich nicht mehr, was passiert war, er hat damals getrunken.'
3.   Wypelnilam tylko formularz i mam to juz zalatwione.
'Ich habe nur das Formular ausgefüllt und habe das schon erledigt.'
4.  Ten kon ma osiodlany grzbiet.
'Dieses Pferd hat einen gesattelten Rücken.'
5. Interesuje go zawod dziennikarza a po studiach ma przydzielone (Akk. Masc.) miejsce (Akk. Masc.) u powaznego wydawcy.
'Er ist an dem Beruf des Journalisten interessiert, und er hat schon für die Zeit nach dem Studium einen zugeteilten Arbeitsplatz bei einem wichtigen Herausgeber.'
6.  Mialam podlane cale mnostwo grzadek, kiedy nagle zaczelo padac.
'Ich hatte eine ganze Menge der Gartenbeete gegossen, als es plötzlich zu regnen begann.'
7.   Nie wiadomo, czy mieli zapiete pasy bezpieczenstwa.
'Es ist nicht bekannt, ob sie angeschnallt waren.'
8.  W owym czasie Slowenia miala zerwane (Akk. nichtpersonal) nici (Akk. nichtpersonal) kooperacyjne z rynkami wschodnimi.
'In dieser Zeit hatte Slowenien die Kooperationsverbindungen mit den Ostmärkten abgebrochen.'
9.  Mam przeczytane 20 stron, jeszcze 5 i skoncze ten rozdzial.
'Ich habe 20 Seiten gelesen, noch 5, und ich beende dieses Kapitel.'
10. Co jakis czas ma leczone zeby.
Hin und wieder läßt er sich die Zähne behandeln.'
11.  Mamy duzo uzgodnionego, ale ciagle nie mozemy sie porozumiec co do tytulu.
'Wir haben schon viel besprochen, aber wir sind uns immer noch nicht einig, was den Titel angeht.'
12. Mamy to (Akk. Neutr.) juý dawno zdane (Akk. Neutr.).
'Wir haben das schon längst bestanden.'
13.  Poniewaz i szef i ona mieli nosy spuszczone na kwinte, postanowilem troche rozladowac atmosfere.
'Da sowohl der Chef als auch sie die Köpfe hängenlassen hatten, beschloß ich die Atmosphäre bißchen aufzulockern.'
15.  W koncu mamy juz zaliczone (Akk. nichtpersonal) kilka semestrow (Gen. personal) na tej uczelni.
'Wir haben schließlich ein paar Semester an dieser Uni absolviert.'
16. Czy ten samochod mial zmieniane opony?
'Hatte dieses Auto gewechselte Reifen?'
17.  Teraz moge juz isc, mam wreszcie ugotowane (Akk. Neutr.) i odkurzone (Akk. Neutr.)
'Jetzt kann ich gehen, ich habe endlich gekocht und staubgesaugt'.
18.  Ludzie, ktorzy tam wystepowali mieli przekopane (Akk. Neutr.), nikt ich nie sluchal i nikt na nich nie glosowal.
'Leute, die dort auftraten, waren in einer mißlichen Lage, niemand hörte ihnen zu, niemand stimmte für sie.'
19.  Zrobisz to dla mnie? Jasne, masz to zalatwione.
'Machst du das für mich? Klar, du kannst dessen sicher sein.'
20.  Zawsze mamy tam zapewniane zakwaterowanie.
'Wir haben dort immer eine gesicherte Unterkunft.'
21.  Nie mielismy wprawdzie zaplanowane (Akk. Neutr.), ale postanowilismy odwiedzic Andrzeja.
'Wir hatten das zwar nicht geplant, aber wir entschieden uns Andrzej zu besuchen.'
22. Mam robiony na drutach sweter.
'Ich habe einen gestrickten Pullover.'
23. Mamy tu ukazany kontrast dwoch rzeczywistosci tak roznych, jak rozne moze byc pieklo od nieba.
'Wir haben hier den gezeigten Kontrast zwischen zweier Realitäten, die so verschieden sind, wie verschieden die Hölle und der Himmel sein können.'
24.  Dzieki pomocy Janka mialem juz wyrzezbionych (Gen. nichtpersonal) kilka drewnianych figurek (Gen. nichtpersonal).
'Dank Janeks Hilfe hatte ich schon ein paar Figuren in Holz geschnitzt.'
25.  Przeciez na tarczach mieli napisane, ze Bog z nimi.
'Schließlich hatten sie auf den Schildern geschrieben, daß Gott mit ihnen sei.'
26. Gdzie to jest? Przeciez mialem to gdzies zanotowane.
'Wo ist das? Ich hatte das doch irgendwo notiert.'5


Wir arbeiteten mit einem Korpus von 51 ausgefüllten Fragebögen. Diese erlauben es nun, erste Schlüsse über den Einbürgerungsgrad der Struktur zu ziehen, und liefern auch für die detaillierte Analyse einzelner Sätze wichtige Erkenntnisse. Wir bildeten nach dem Grad, mit dem die Sätze akzeptiert worden waren, aus den 25 Sätzen 3 Gruppen:

Gruppe 1: Sätze, die meistens akzeptiert werden. Dies ist die größte Gruppe. 10 Sätze wurden so bewertet, nämlich: 2, 7, 13, 15, 16, 19, 20, 23, 14, 26.
Gruppe 2: Sätze mit einem mittleren Akzeptanzgrad: Sätze die insgesamt etwa so oft akzeptiert wie abgelehnt wurden. 8 Sätze wurden so bewertet, nämlich:1, 3, 5, 8, 9, 10, 12, 25.
Gruppe 3: Sätze mit einem niedrigen Akzeptanzgrad: Antwort 1 überwiegt Antwort 2. 7 Sätze wurden so bewertet, nämlich 4, 6, 11, 17, 18, 21, 22.
Der Grammatikalisierungsgrad der Konstruktion wird sowohl anhand der im Formular angekreuzten Kategorien als auch anhand der von Informanten gebildeten Sätze gemessen.

Eine der wichtigsten Fragen, die bei der Untersuchung dieser Konstruktion beantwortet werden soll, ist ob miec 'haben' jeweils ein Vollverb oder ein Hilfsverb ist. Das hängt mit der Frage nach seiner "Reichweite" innerhalb der Konstruktion, oder laut Lehmann (1995) mit dem Skopus von miec zusammen. Starke Grammatikalisierung der Struktur bedeutet den Verlust an Skopus ihrer Bestandteile.

Die Untersuchung hat ergeben, dass miec mit Sicherheit in einigen Fällen nicht mehr die Funktion eines Vollverbs hat.

Wäre das der Fall, müsste z. B. auf miec immer ein Akkusativ-Objekt folgen. Die Ergebnisse unserer Befragung ergeben aber, dass dies nicht der Fall ist. Es reicht, diesbezüglich die Auswertung der zur Bewertung vorgegebenen Sätze, die über kein Objekt verfügen (4 Sätze), vorzunehmen. Wäre miec ein Vollverb, müsste in diesen Sätzen jeweils ein Objekt hinzugefügt werden. Beim folgenden Satz wurde z.B. eine solche Umformulierung gefordert:Nie mielismy wprawdzie zaplanowane (Akk. Neutr.), ale postanowilismy odwiedzic Andrzeja  'Wir hatten (das) zwar nicht geplant aber wir entschieden uns, Andrzej zu besuchen'.

Nur 3 unserer 51 Informanten entschieden sich für eine Umformulierung des Satzes und schrieben ihm ein Genetiv-Obj. zu6. Außerdem gab es Sätze, denen in keinem einzigen Fall oder fast nie von unseren Informanten ein Objekt hinzugefügt wurde. Satz 18 gehört der Gruppe 2 (mit mittlerem Akzeptanzgrad) an. Er wird siebenmal umformuliert, darunter jedoch nur einmal durch Hinzufügen eines Objektes. Er lautet:

18.Ludzie, ktorzy tam wystepowali mieli przekopane, nikt ich nie sluchal i nikt na nich nie glosowal. 'Leute, die dort auftraten, waren in einer misslichen Lage, niemand hörte ihnen zu, niemand stimmte für sie'. Die vorgeschlagenen Umformulierungen:
18a Ludzie, ktorzy tam wystepowali mieli przechlapane (Akk. Neutr.),...(107, 25, 27, 40)

18b Ludzie, ktorzy tam wystepowali mieli przegrane, (Akk. Neutr.),... (14, 15)

18c Ludzie, ktorzy tam wystepowali mieli utrudnione (Akk. Neutr.) zadanie (Akk. Neutr.),   (26)

Satz 2. (Nie pamieta co sie stalo, mial juz wtedy wypite. 'Er erinnert sich nicht mehr, was passiert war, er hat damals getrunken') ist der Satz mit dem höchsten Akzeptierungsgrad. Das Fehlen eines Objektes scheint hier also die Informanten nicht zu stören. In keinem der Antwortbögen wird ein Objekt eingefügt.

Es ist also durchaus möglich, miec ohne Objekt zu benutzen. Sein Skopus kann auf diese Weise ganz klein sein, was von einem ziemlich hohen Grammatikalisierungsgrad von miec zeugt.

An dieser Stelle sei noch kurz auf die 4 Fälle zurückgegangen, in denen die betrachtete Konstruktion durch Präteritumsformen ersetzt wurde. Auch sie sind ein Beweis für die Bedeutungsentleerung von miec. Die Tatsache nämlich, dass die Konstruktion viermal durch eine Präteritumform ersetzt wird, deutet darauf hin, dass wenigstens in diesen vier Fällen der Ausdruck miala zerwane  als eine Handlung (und nicht als ein Zustand des Besitzens) interpretiert wird. Der Satz wird zwar in diesen 4 Fällen für "nicht korrekt" oder "korrekt, aber nur in der Umgangssprache" gehalten, der Ausdruck miala zerwane wird jedoch auf jeden Fall als ein Ausdruck der Vergangenheit angenommen.

Die dargestellten Erkenntnisse weisen also darauf hin, dass miec schrittweise seine lexikalische Bedeutung 'besitzen' verliert. Die semantische Größe des Zeichens ist laut Lehmann ein Faktor zur Bestimmung der "Integrität" (des paradigmatischen Gewichtes eines Zeichens).

Ist die Integrität von miec klein (worauf hier das nicht als störend empfundene Fehlen des Objektes deutet), dann ist es ein ziemlich stark grammatikalisiertes Zeichen.

Noch eine andere Tatsache weist auf eine geringe Integrität von miec hin. In Satz 8:  W owym czasie Slowenia miala zerwane nici kooperacyjne z rynkami wschodnimi.  'In dieser Zeit hatte Slowenien die Kooperationsverbindungen mit den Ostmärkten abgebrochen' gibt es einen semantischen Widerspruch, der dem vergleichbar ist, den Nitsch (1903) in dem ersten von ihm angetroffenen Satz mit dieser Konstruktion festgestellt hatte. Dieser Widerspruch liegt im Satz zwischen den Wörtern: miec (welches in der Verwendung als Vollverb etwa 'besitzen' bedeutet) und zerwane 'abgebrochen' (Partizip von zerwac 'abbrechen'), was gerade 'nicht mehr besitzen/haben' meint. Hier sei eine Parallele zu der Interpretation der französischen periphrastischen Verbformen gezogen. Die Ausdrücke venir de faire qch. (Bsp.: il vient d’ achter un livre ('er hat gerade ein Buch gekauft') und aller faire qch., das sogenannte "futur proche" ('il va faire des achats'), haben sich, wie diese beiden Beispielsätze zeigen, aus Konstruktionen entwickelt, in denen die Verben venir und aller in ihrer wörtlichen Bedeutung benutzt wurden. Wann aber war ein Punkt der Geschichte des "futur proche" erreicht, an dem man berechtigterweise davon sprechen konnte, daß es sich um eine periphrastische Wendung handelte, zu der also die Verben nicht mehr als Bewegungsvollverben benutzt wurden. Als äußeres Anzeichen wird das Auftauchen in Texten von Verwendungsweisen gewertet, in dem der ursprüngliche Sinn eines Bewegungsverbs im Widerspruch zur dargestellten Realität stehen würde: La reine venait de mourir (Widerspruch zwischen der Bewegungslosigkeit der Toten und venir) oder Je vais rester (Widerspruch zwischen 'bleiben' und 'gehen').

Erkennen die Informanten diesen semantischen Widerspruch zwischen miecund zerwane 'abgebrochen', und auf welche Weise reagieren sie darauf? Die Antworten spiegeln deutlich eine Umbruchsituation, die sich in der Unentschlossenheit (schon richtig vs. noch unkorrekt?) ausdrückt. Dieser Satz wird in die Gruppe 2 (mittlere Akzeptanz) eingeordnet. Er wird von 25 Informanten in unterschiedlichem Maß akzeptiert und von 24 nicht akzeptiert. Von den zusammen 9 eingetragenen Korrekturen dieses Satzes wird die Mehrheit (5 Sätze) auch mit Hilfe der gleichen Konstruktion miec+ Partizip gebildet. In 4 Sätzen wird die Konstruktion durch die Präteritumsform zerwala ersetzt.

Der semantische Widerspruch ist also für wenigstens die Hälfte der Informanten kein störender Faktor. Er existiert für sie nicht, oder er wird von ihnen nicht als störend erkannt.

Im folgenden wird der Skopus und die Integrität der zweiten Komponente der Konstruktion, d. h. des Partizips, analysiert.

Keine Kongruenz zwischen den Genera eines Partizips und eines Objekts wurde schon von Pisarkowa (1964) als ein Anzeichen der Etablierung dieser Konstruktion als einer Vergangenheitsform betrachtet. Der Skopus des Partizips8, sein Beziehungsausmaß wäre dann klein, was hingegen von einer starken Grammatikalisierung zeugen würde. Was bedeutet aber im Polnischen die Tatsache, dass sich das Partizip nicht nach dem Objekt richtet?

Im Deutschen z. B. wird das Partizip in prädikativer Verwendung nicht flektiert. Im Polnischen hat es dagegen immer eine Flexionsform, z. B. im Passiv: dom (Masc.) jest budowany (Masc.) 'das Haus ist gebaut'; zupa (Fem.) jest zjedzona (Fem.) 'die Suppe ist aufgegessen'. Man kann also nicht erwarten, dass das Partizip in der untersuchten Konstruktion überhaupt nicht flektiert wird. Der stärkste Grammatikalisierungsgrad wird laut Pisarkowa dann erreicht, wenn das Partizip unabhängig von dem Objekt im Neutrum steht, d. h. mit dem ausgedrückten oder nicht ausgedrückten Demonstrativpronomen to kongruiert.

Ein gutes Beispiel dafür ist wahrscheinlich schon der im Formular mit Nummer 2 versehene Satz: 2. (Nie pamieta co sie stalo, mial juz wtedy wypite.) 'Er erinnert sich nicht mehr, was passiert war, er hat damals getrunken'. Hier ist kein Objekt genannt, und das Partizip kongruiert allenfalls mit einem nicht ausgedrückten Demonstrativpronomen to. Dabei sind keine Korrekturen seitens der Informanten festzustellen. Der Satz gehört außerdem der Gruppe der meist akzeptierten Sätze an.

Ähnlich werden im Satz 9 (Mam przeczytane 20 stron, jeszcze 5 i skoncze ten rozdzial.  'Ich habe 20 Seiten gelesen, noch 5 und ich beende dieses Kapitel'.) von keinem einzigen Informanten irgendwelche Korrekturen vorgenommen, obwohl das Partizip in einer rein attributiven Verwendung laut Grammatikregeln9 im Genitiv, also als przeczytanych stehen sollte.

Im folgenden Fall wurde sogar die ursprünglich bestehende Kongruenz abgebaut. 11. Mamy duzo uzgodnionego, ale ciagle nie mozemy sie porozumiec co do tytulu'Wir haben schon viel besprochen, aber wir sind uns immer noch nicht einig, was den Titel angeht'. Dieser Satz wurde folgendermaßen geändert: 11d Mamyduýouzgodnione (Akk. nichtpersonal). Eine Objektfunktion des Partizips aus dem Satz 11 ist hier nicht mehr zu erkennen. In einem solchen Fall müsste das Partizip nämlich, da es nach der Adverbialbestimmung duzo auftritt, im Genitiv (uzgodnionego) stehen. Es wird jedoch hier im Akkusativ nichtpersonal, evtl. Neutrum ausgedrückt. Die fehlende Kongruenz zwischen Objekt und Partizip deutet auf einen ziemlich starken Grammatikalisierungsgrad des Partizips hin.

Es läßt sich also festhalten, dass auch im Polnischen ein Prozess eingesetzt hat, bei dem die Kongruenz zwischen Partizip als Attribut und direktem Objekt abgebaut wird. Im Polnischen geht die Entwicklung deutlich dahin, als Standardform des Partizips das Neutrum Singular zu etablieren. Dieser Prozess ist allerdings keineswegs abgeschlossen; auch in der Umgangssprache wird (noch?) viel kongruiert.

Allerdings muß aus der Sicht des übereinzelsprachlichen Beobachters darauf hingewiesen werden, dass allein das Faktum der Kongruenz von Partizip und Objekt kein Grund ist, die Existenz eines PERFECTUM zurückzuweisen. Das Französische beweist das. Hier wird in einigen Fällen noch kongruiert, nämlich dann, wenn das direkte Objekt vor dem Partizip steht. Bei Nachstellung des Objekts bleibt das Partizip unverändert. Es heißt j'ai lavé les mains, aber les mains que j'ai lavées. Allerdings sind diese Kongruierungsunterschiede in den allermeisten Fällen rein orthographisch, und sie sind lautlich nicht mehr realisiert. In den seltenen Fällen, in den ihnen ein lautlicher Unterschied entspricht, verzichtet die Umgangssprache auf den accord, was von Traditionalisten als Fehler und als Beweis für die Degeneration des guten Französisch gewertet wird. Vgl. das berühmte Chanson von George Brassens: La premiŹre femme qu’on a pris (statt prise) dans ses bras. Im kultivierten Französisch hat sich eine auch von gebildeten Franzosen nicht mehr durchschaubare Kasuistik über die orthographisch korrekte Schreibung (von lautlich nicht wahrnehmbaren) Partizipendungen im passé composé herausgebildet. So muß es heißen Les airs que j’ai entendu (nicht entendus) jouer ('Die Melodien, die ich spielen hörte'), aber Les musiciens que j’ai entendus (nicht entendu) ('Die Musiker, die ich spielen hörte')10. Unabhängig davon, ob diese rein orthographischen Feinheiten beachtet werden, wird auch von denen, die diese unterstützen, zu Recht und ohne Problematisierung angenommen, daß es sich bei dem passé composé um ein volles, den anderen Tempora gleichwertiges PERFECTUM handelt. Die Reste der Kongruenz und das Spannungsverhältnis zwischen der normativ vorgeschriebenen Übereinstimmung und der Unabhängigkeit beider Elemente im informellen Gebrauch zeigen, daß die Tempusbildung im Französisch zwar weit fortgeschritten, aber noch nicht ganz abgeschlossen ist.
 

4 Gibt es nun ein Perfekt im modernen Polnisch?

Das moderne Polnisch ist wie jede lebende Sprache ein Diasystem. Es ist ein System von Subsystemen und diese unterscheiden sich gerade in Hinsicht auf ihre Tempussysteme. Die gehobene schriftliche Sprache scheint mit dem traditionell in den polnischen Grammatiken beschriebenem Sprachsystem, das Präsens (czas terazniejszy) Präteritum (czas przeszly)  und ein nur noch in Überbleibseln vertretenes Plusquamperfekt enthält, adäquat beschrieben. Das Gesamtsystem aber scheint im Umbruch. In der Sprache der jüngeren Generation, und dort vor allem in informellem Gebrauch, scheinen die Verhältnisse schon anders zu liegen. Da erscheint eine Form, die man mit einiger Berechtigung als neues Tempus "PERFECTUM" interpretieren kann. Es handelt sich dabei keineswegs um eine verpönte Form, etwa eines Jugendlichen-Slang, dessen Unkorrektheit sich die Sprecher bewußt wären. Vielmehr gibt es schon eine weit verbreitete Zustimmung, wenngleich unsere Beispiele sehr unterschiedlich, und dabei durchaus zustimmend, beurteilt werden. Die Zustimmung zu diesen PERFEKT-Formen hängt von dem Sprachregister ab. Umgangssprachlich erfahren sie mehr Akzeptanz als schriftsprachlich. In unserer empirischen Untersuchung wurden Stadien der linguistischen Kompetenz der Sprecher erfaßt. Die erste Frage betraf die klassische Unterscheidung, z. B. der generativen Grammatik: akzeptabel versus inakzeptabel. Die zweite differenzierte den Akzeptierungsbereich: Für welches Register, für welchen Bereich des Diasystems gelten diese Urteile. Die dritte Frage betraf die Interpretation der akzeptierten Formen. Werden Ausdrücke wie mam zrobione zadanie von sprachlichem Bewußtsein als präsentische Fügungen des Verbs ('haben') + Akkusativobjekt oder als Perfekta wahrgenommen?

Die Antworten auf diese gestaffelten Fragen müssen sehr differenziert ausfallen. Unsere Ergebnisse lassen aber den Schluss zu, dass mindestens für einen grossen Teil der jüngeren Sprecher die entsprechenden Formen bereits den Charakter eines Vergangenheitssystems angenommen haben.

Viele der Formen werden akzeptiert. Vieles spricht dafür, dass sie als Vergangenheits-Verbformen aufgefasst werden, und das Partizip wird in vielen Fällen als dem Verb zugehörig empfunden und weniger als Attribut des Objektnomens.

Die Bildung eines PERFECTUMS ist jedoch im Polnischen - wie die gesamte Umwandlung eines synthetischen zu einem analytischen Sprachsystem - noch bei weitem nicht so eindeutig, so einheitlich und so weit fortgeschritten wie in den Vergleichssprachen Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch. Die Entwicklung umfasst auch eine PLUSQUAMPERFEKT-Bildung, auf die wir jedoch nicht näher eingegangen sind.

Die Parallelen zu den historisch schon vollendeten Perfektbildungen der anderen Sprachen sind evident. Man kann von ihnen darauf schliessen, dass sich die Entwicklung in die Richtung fortsetzt, die auch die anderen Sprachen genommen haben. Ob das eintritt, darüber kann nur spekuliert werden. Vor allem ist nicht zu erwarten, dass die polnische Perfekt-Präteritum-Opposition sich semantisch mit der einer der vergleichbaren Sprachen deckt. Zwar lässt sich auf einer hohen Abstraktionsstufe ein gemeinsamer semantischer Nenner für das PERFEKT feststellen. Während - und das gilt für alle vergleichbaren westeuropäischen Sprachen - das PRAETERITUM das und dann, und dann... der aufeinanderfolgenden Ereignisse ausdrückt, kommt den im PERFECTUM ausgedrückten Handlungen ein Gegenwartsbezug zu. Dieser ist jedoch in den einzelnen Sprachen je spezifisch ausgestaltet. Die Semantik der polnischen Relation wartet noch auf ihre Beschreibung.



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Anmerkungen

(1) Wir bedienen uns der Bezeichnungen PRAETERITUM bzw. PERFECTUM, wenn wir übereinzelsprachlich auf die synthetischen bzw. analytischen Vergangenheitstempora der verglichenen Sprachen verweisen wollen. Diese Tempora entsprechen semantisch normalerweise dem, was in der Typologie und Universalienforschung als past resp. anterior (oder perfect) bezeichnet wird (cf. z. B. Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 54f.). Auch wenn die Entsprechung von Form und Inhalt regelhaft auftritt und keinen Zufall darstellt (cf. Bybee/Dahl 1989), wurde hier auf einen solchen Bezug bewußt verzichtet, da zunächst nur die Herausbildung einer neuen Form im Vordergrund stehen sollte.

(2) Dabei wollen wir den Begriff langue nur teilweise im etablierten Sinn gebrauchen, nur insofern als damit das Sprachsystem (im Gegensatz zur Realisierung) gemeint ist. Wir meinen damit nicht genau gleich strukturierte Systeme in einer Vielzahl von Sprechern.

(3) Nur am Rande erwähnen wir die entsprechende Entwicklung bei Perfekta, die mit sein, ütre, be gebildet werden (ich bin gekommen aus ich bin ein gekommener, d. h. einer der gekommen ist usw.). Wir können hier aus Raumgründen auch nicht auf die Bildung eines neuen Plusquamperfekts im Polnischen eingehen. Sie erfolgt ganz parallel zur Perfektbildung. Siehe Näheres in Kamierczak (1998).

(4) Den ersten Hinweis auf Perfektgrammatikalisierung im Polnischen erhielt Harald Weydt 1998 mündlich von Tilman Berger, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

(5) Es handelt sich um 25 Sätze. Die Numerierung bis 26 kommt daher, dass wir die Nr. 14 ausgelassen haben. Gegenüber Kamierczak (1998) wollten wir keine Umnummerierung vornehmen.

(6) Nach verneinten transitiven Verben wird im Polnischen der Genitiv gebraucht; er bezeichnet hier das Objekt der durch das Verb ausgedrückten Tätigkeit

(7) Diese in Klammern angegebene Zahl verweist auf die Nummer des zurückerhaltenen Informanten.

(8) Die Relation zwischen Objekt und Partizip könnte natürlich auch von Objekt aus betrachtet werden. Da aber, wie es sich herausgestellt hat, das Objekt kein obligatorischer Bestandteil der analysierten Konstruktion ist, wird das Partizip als Ausgangspunkt der Betrachtung gewählt.

(9) Nach den Kardinalzahlen ab 4 sowie allen zusammengesetzten Zahlen, die auf eine Zahl > 4 enden, muß im Polnischen der Gen. Pl. stehen.

(10) Beispiel aus Grevisse (1993: § 915). Grevisse erkennt allerdings auch (§ 907, Remarque) das Künstliche dieser Regeln. "La rŹgle d'accord du participe passé conjugué avec avoir est passablement artificielle. La langue parlé la respecte trŹs mal, et, mźme dans l'écrit, on trouve des manquements, mais ils restent minoritaires". Es folgt dann eine Reihe von Verstößen gegen diese Regeln, die man bei "guten" Autoren findet.